J. Müske u.a. (Hrsg): Radio und Identitätspolitiken

Cover
Titel
Radio und Identitätspolitiken. Kulturwissenschaftliche Perspektiven


Herausgeber
Müske, Johannes; Föllmer, Golo; Hengartner, Thomas; Leimgruber, Walter
Reihe
Studien zur Popularmusik
Erschienen
Bielefeld 2019: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Georg Götz, Fakultät III: Geschichte, Universität Vechta

Der Sammelband sucht Antworten auf die Frage, welche Rolle der Rundfunk bei der Konstruktion von kollektiven Identitäten spielte und noch spielt. Dies geschieht aus einer spezifisch schweizerischen Perspektive, weil der Band aus dem Forschungsprojekt „Broadcasting Swissness“ hervorging. Richtig stellen die Herausgeber heraus, dass die Eigenschaften des Radios als „Alltagsmedium“ (S. 10) und als staatliches Organ (S. 12) Identitätsbildungsprozesse besonders fördern konnten. Ein Fokus auf die Hoch-Zeit des Radios von ca. 1930–1960 ist dabei nur konsequent. Identitätspolitik verstehen die Herausgeber dabei als jede Art von Mobilisierung, die in Beziehung zu Politik, Kultur und Identität steht (S. 11). Diese sehr weite Definition des Begriffs „Identitätspolitik“ hat eine breite programmatische Streuung der Beiträge zur Folge. Die Rezension legt den Schwerpunkt auf Beiträge, die Rundfunk-Quellen mit anderen Quellen kontrastieren und so deren spezifischen Mehrwert zeigen oder deren Erkenntnisse oder Methodik sich für eine Übernahme in eigene Forschung besonders eignen.

Der Band ist in fünf Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt konzentriert sich auf die Gestaltung medialer Klangwelten, der zweite und dritte fragen danach, wie dadurch Identität bzw. Heimat gestiftet werden sollte. Das vierte Kapitel fragt nach Identitätspolitiken in Bildung und Kulturaustausch. Mit der anschließenden Diskussion des Verhältnisses sozialer Medien und Rundfunk schließt der Band. Die Zuordnung der Beiträge ist dabei im Einzelnen nicht immer nachvollziehbar.

Im ersten Abschnitt zeigt Hans-Ulrich Wagner, wie die ab 1929 übertragenen Hafenkonzerte einen hamburgischen Klang schufen und dadurch Hamburg im Radio erst kreierten. Die Stadt wird durch Dampfpfeifen und Schiffshörner symbolisiert, die Sprecher betonen ihr Vor-Ort- und Dabeisein, nehmen damit die Hörer/innen mit und verorten so die Elbestadt für sie. Entscheidend hierfür war, dass sich der Rundfunk in Deutschland zur gleichen Zeit durchsetzte wie frühe Formen des Stadtmarketings. Radio „als ein Instrument, das die Teilhabe an einem räumlich entfernten Geschehen ermöglichte“ (S. 63) war dafür wie geschaffen. An Wagners Beitrag gefällt der reflektierte Umgang mit den Quellen und die in einzelnen Schritten explizierte Quellenanalyse. Er zeigt, dass auch solch frühe Tondokumente keineswegs „authentisch“ sind, sondern das Ergebnis eines komplexen Konstruktions- und Überlieferungsprozesses. Auf der anderen Seite weist er auch nach, dass der Rundfunk keine Sonderrolle spielte: Dass Hamburg und sein Hafen durch Schiffssirenen klanglich markiert werden, ist so wenig überraschend, wie „die Assoziation ferner Welten mit elektronischem Klang“ (S. 85), die Felix Wirth in seinem Beitrag zu Deutschschweizer Science-Fiction-Hörspielen zeigt.

Viele Beiträge weisen implizit nach, dass der Rundfunk keine Sonderrolle unter den Medien spielte. Identitätskonstruktionen im Rundfunk und in anderen Medien ähnelten sich weitgehend: Eine Konstruktion der NS-Volksgemeinschaft fand zwar im NS-Rundfunk statt, wie Kathrin Dreckmann schreibt, aber in anderen Medien ebenfalls. Dasselbe ist auch zu sagen für die Konstruktion von regionaler oder lokaler Identität durch die Übertragung von Glockengeläut bestimmter Kirchen. Kirchen sind in den 1950er-Jahren bereits als Symbole einer vorindustriellen, heilen Welt codiert – es fällt schwer, deren Klang dann nicht entsprechend zu verstehen.

Dort wo der Band konsequent rundfunkspezifische Fragestellungen in weitere historische Fragestellungen einbettet, ist der Erkenntnisgewinn am größten: Martina Novosel kann in ihrer Interviewstudie belegen, dass die Tamburizza als Musikinstrument ab den späten 1980ern einen Prozess der „Kroatisierung“ durchlief, während sie im 19. Jahrhundert einfach als südslawisches Instrument gegolten hatte. Ursache hierfür war, dass sich während des jugoslawischen Bürgerkrieges der kroatische Rundfunk von der sozialistisch verordneten Volksmusik der Zeit vor 1989 sowie von traditioneller Gusle-Musik, die (mit genauso wenig Berechtigung) als „Kennzeichen der serbischen nationalen Identität“ (S. 147 f.) galt, absetzen wollte. Zudem stand der kroatische Rundfunk vor dem Problem, dass er keine serbischen Interpreten mehr spielen sollte. So spielte er vor allem Musik, die als kroatisch galt, und bevorzugte hierfür südslawische Volksmusik, die mit mitteleuropäischen Elementen angereichert wurde: „Die Tamburica-Musik sollte [...] dazu dienen, das ‚westliche‘, also zentraleuropäische Kulturerbe Kroatiens sichtbar zu machen“ (S. 148). Im Zuge der 2005 begonnenen EU-Beitrittsverhandlungen verlor die kroatische Regierung jedoch das Interesse an der Konstruktion einer nationalen Musik, so dass der Anteil der Tamburizza-Musik am Programm sank. Heute befindet sich diese Musik in einer paradoxen Lage: Einerseits gilt sie als Bestandteil der nationalen Identität, andererseits dominiert angloamerikanischer Pop die Radiowellen.

Im deutschen Sprachraum hatte vor allem die Volkskunde ein Interesse an der Schaffung regionaler Identität. Hierfür sah sie im Radio einen Verbündeten, weil man durch ihn „echte“ Volksmusik verbreiten könne. Johannes Müske zeigt allerdings am Beispiel von Arbeitstagungen zum Thema „Volkskunde und Rundfunk“ (S. 183), dass sich auf lange Sicht die Bedürfnisse von Volkskunde und Rundfunk nicht vereinbaren ließen. Hauptproblem der Kooperation war, dass die Volkskunde authentische Aufnahmen senden wollte, die aber kaum radiotauglich waren. Rundfunkstationen arbeiteten dagegen gern mit Berufsmusiker/innen zusammen, die aber gerade nicht volkstümlich waren. Darüber hinaus wünschte sich das Radiopublikum vor allem seit den 1960ern durchaus moderne Musik. Volkskunde versuchte dagegen, „unauthentische Aufnahmen, Lieder oder Stile vom Radio fernzuhalten“ (S. 187).

Der vierte Abschnitt fragt nach der Rolle des Radios in Bildung und Kulturaustausch. Andreas Zeising zeigt in seinem gründlich recherchierten und interessant bebilderten Beitrag zum Dürer-Jubiläum, dass der Rundfunk Dürer weniger als „deutschen“ Künstler feierte, sondern als Klassiker der Welt- oder zumindest europäischen Kunst. Dies diente der kulturellen Selbstversicherung der Deutschen der Weimarer Republik und entsprach der nach Locarno vollzogenen Annäherung an den Westen. Das Interessante ist aber auch hier weniger, wie anders oder neu der Rundfunk war, sondern wie sehr er anderen Diskursen ähnelte: Das Dürer-Jubiläum 1928 beging der Rundfunk auf ganz ähnliche Weise wie andere Medien, was auch naheliegt, denn die Landesrundfunkanstalten kooperierten dafür auf vielfältige Weise mit lokalen Organisationen und Kunsthistorikern.

Im selben Abschnitt legt Rüdiger Ritter dar, wie der Moderator Willis Conover und seine Jazz-Sendung auf Voice of America zu einer Institution in vielen Ostblockstaaten wurde. Dabei war dies aber keine Einbahnstraße, sondern Conover brachte auch viele Jazz-Stars aus dem Ostblock in die USA. Ritters Aufsatz ist deswegen so anregend, weil er zeigt, wie das Medium Rundfunk Entwicklungen vorantrieb, wie es andere Medien nicht vermochten. Der Sinn von Rundfunkgeschichte wird hier deutlich. Ritter begreift den Ost-West-Diskurs über Jazz eher als „Kulturtransfer“ denn als Kalten Krieg via Radio. Die Frage stellt sich dann, warum Jazz so friedfertig erscheinen konnte, dass die „internationalen Jazz-Diskurse von einer für den Kalten Krieg geradezu unwirklichen Harmonie und Übereinstimmung gekennzeichnet“ (S. 237) sein konnten. Offensichtlich war Jazz so wenig politisiert, dass er für die Machthaber im Ostblock keine Gefahr darstellte. Das in den 1950ern auf den Jazz übertragene Hochkulturschema war offensichtlich bei der Akzeptanz von Jazz im Sozialismus hilfreich. (Ritter weist dies bereits für die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit nach.)

Wie man ergänzen darf, macht der oftmals instrumentale Jazz seine Übertragung auf andere Kulturen sehr viel einfacher als die von anglophonem Rock und Pop. Dies ist dann aber doch wieder ein Verweis auf eine ausgeprägte Rivalität zwischen Ost und West, denn westliche Rockmusik stellte für die Regime des Ostblocks ein wesentlich größeres Problem dar. Instruktiv sind auch Ritters Ausführungen zur Bedeutungszuschreibung von Jazz, der in Ost wie West etwa völlig unterschiedliche Freiheitsbegriffe implizieren konnte und gerade dadurch einen dauerhaften Kommunikationszusammenhang schaffte. Hierbei war die Übernahme des ursprünglich US-amerikanischen Jazz nicht einfach eine Amerikanisierung und auch nicht nur eine „Selbst-Amerikanisierung“ (S. 236), sondern in seiner Rezeption entstand in Osteuropa (wie auch in Westeuropa) etwas genuin Neues.

Wie in den meisten Sammelbänden stehen auch hier Texte von unterschiedlicher Qualität nebeneinander. Der Band zeigt, dass die Radiogeschichte mit einer großen Zahl an Theorien und Begriffen hantiert, deren Diversität einer zielführenden Lektüre nicht dienlich sind. Insgesamt wird dem Rezensenten etwa der spezifische Vorteil des Ortsbegriffs, der in mehreren Aufsätzen benutzt wird, nicht klar. Dagegen sind die hier präsentierten transnationalen Ansätze vielversprechend. Insbesondere, wo der Band neue Fragestellungen mit bestehenden Diskursen der Geschichtswissenschaft verbindet, ist der Erkenntnisgewinn groß. Dies gilt besonders, wenn eine solche Konzeption mit der Erschließung neuer Quellengattungen einhergeht.

Redaktion
Veröffentlicht am
24.09.2019
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